Ehemalige Straßenhunde helfen Kindern mit besonderen Bedürfnissen in Rumänien
Wenn in den Medien Berichte über streunende Hunde bzw. Straßenhunde zu lesen sind,
dann geht es meistens um Massentötungskampagnen, die von den örtlichen Behörden
zur Reduzierung der Population der streunenden Hunde durchgeführt werden. Straßenhunde
werden oft negativ dargestellt, hinsichtlich des Konflikts zwischen Mensch und Tier,
ungeachtet der Tatsache, dass viele streunende Hunde in Wirklichkeit ausgesetzte
Haustiere oder die Nachkommen von ausgesetzten Haustieren sind, und darum domestiziert
sind und weiterhin menschlichen Kontakt und Pflege benötigen.
© Four Paws/Vier Pfoten
Im Bemühen darum, die Fehlvorstellung von Straßenhunden zu ändern, ist die internationale
Tierschutzorganisation VIER PFOTEN auf eine Idee gekommen, die zunächst von vielen
als absurd betrachtet wurde: Sie beschloss, ehemalige Straßenhunde als Therapiehunde
für Kinder mit unterschiedlichen Behinderungen auszubilden, und damit nicht nur
Menschen zu helfen, sondern auch den streunenden Hunden, indem die Haltung der Öffentlichkeit
geändert wird. Eine noch größere Herausforderung bestand im Standort dieses Unterfangens,
Bukarest in Rumänien. Tiergestützte Therapie war in Rumänien bis dahin praktisch
unbekannt, und ihrer Einführung wurde große Skepsis entgegengebracht. Außerdem werden
Straßenhunde in Rumänien von vielen Leuten negativ wahrgenommen, aufgrund der Darstellungsweise
in den Medien; zudem wurde befürchtet, dass sie für die Tiertherapiearbeit nicht
geeignet seien.
In Bukarest, der Hauptstadt des ehemaligen kommunistischen Landes, wimmelte es von
Straßenhunden - ein Erbe aus der Zeit Ceaușescus, als das Regime die Zerstörung
ganzer Stadtviertel von Häusern unternahm, um Platz für den riesigen Palast des
leitenden Funktionärs zu schaffen. Die Bewohner wurden in Wohnblöcke am Stadtrand
zwangsumgesiedelt, wo es keinen Platz mehr für ihre Haustiere gab, weshalb viele
einfach zurückgelassen wurden und sich als streunende Straßenhunde frei vermehren
konnten. Jahrzehnte später setzen viele örtliche Behörden ihre Massentötung der
Hunde fort, da es ihnen an der Bereitschaft fehlt, in nachhaltige und menschliche
Lösungen zu investieren, wie Einfangen, Kastrieren und Freisetzen der Tiere, um
die Zahl der Straßenhunde einzudämmen. Dabei werden die streunenden Hunde in den
Medien oft negativ dargestellt, um derartige Aktionen rechtfertigen zu können.
© Four Paws/Vier Pfoten
Trotz der Umstände, die eine große Herausforderung darstellten, ließ VIER PFOTEN
nicht locker, und nur wenige Monate später, unter der Führung von Anca Tomescu,
Leiterin von Stray Animal Care, hatte die Tierschutzstiftung unter Leitung eines
Psychotherapeuten ein Team von ausgebildeten Hundeführern auf die Beine gestellt,
und verfügte über mehrere zertifizierte Therapiehunde, so dass mit der Arbeit mit
Kindern in staatlichen und privaten Einrichtungen in Bukarest begonnen werden konnte.
Bis heute, d.h. fast 12 Jahre nach Start des Dogs for People-Projekts, konnten über
150 Kinder von den Einsätzen des Teams von VIER PFOTEN profitieren, und dank der
erstaunlichen Ergebnisse gewinnt die tiergestützte Therapie in Rumänien und in anderen
osteuropäischen Ländern zunehmend an Bedeutung.
Psychotherapeut Victor Chitic arbeitet bereits seit Beginn des Dogs for People-Projekts
in Rumänien mit dem Team von VIER PFOTEN zusammen. Victor wählt die Kinder aus,
die in das Programm einbezogen werden, und koordiniert die tiergestützten Therapiesitzungen.
„Tiergestützte Therapie ist eine Art Ergänzungstherapie, das heißt, dass sie eine
konventionelle therapeutische Verhandlung verstärkt, an der das Kind teilnimmt“,
erläutert Victor, und erklärt dann ausführlicher den Nutzen der Arbeit mit Therapiehunden.
„Hunde bieten eine bedingungslose Akzeptanz, sie sehen keine Behinderung und urteilen
darum nicht. Hunde bieten sensorische Stimulationen, tragen zur Entwicklung von
Beziehungsfähigkeiten bei, fördern bestimmte Verhaltensweisen und können vor allem
zu einem „ganz besonderen Freund“ für das Kind werden.
© Four Paws/Vier Pfoten
Das Team von VIER PFOTEN in Bukarest arbeitet hauptsächlich mit zwei Kategorien
von Kindern zusammen – einerseits mit denjenigen mit Entwicklungsbedürfnissen (genetische
Probleme wie Down-Syndrom, perinatale Syndrome, sowie Kinder mit zu einem späteren
Lebenszeitpunkt entstandenen speziellen Bedürfnissen, z.B. nach Schlaganfällen),
und andererseits auch mit Kindern mit Störungsbildern des autistischen Spektrums.
Die Ziele der Therapiesitzungen sehen für jedes Kind anders aus, und werden von
ihren jeweiligen Psychologen festgelegt, mit denen Victor und das Team von VIER
PFOTEN eng zusammenarbeiten. Das tiergestützte Therapieprojekt Dogs for People trägt
zur Erreichung von Fortschritten in verschiedenen Bereichen des Verhaltens eines
Kindes bei, auf physischer und mentaler Ebene sowie auf Erziehungs- und Motivationsebene.
Mit Hilfe der ehemaligen Straßenhunde erweitern Kinder ihre motorischen Fähigkeiten
oder ihr Geschick im Umgang mit dem Rollstuhl, sie verbessern ihre verbale Kommunikation,
die Aufmerksamkeitsspanne und die Selbstachtung, sie reduzieren das Angstniveau,
erweitern ihr Vokabular, genau wie ihr Kurzzeitgedächtnis, und begreifen kurzzeitige
Konzepte, wie die Größe, Form und Farbe im Zuge der verschiedenen Übungen mit dem
Hund, an denen sie teilnehmen. Auch ihr Wunsch, mit anderen Kindern oder Erwachsenen
zu interagieren, nimmt zu, und ihre Plan- und Organisationsfähigkeiten werden weiter
ausgebaut. Alle diese Ergebnisse lassen sich in wesentlich kürzerer Zeit erreichen,
als wenn nur konventionelle Psychotherapie angewendet wird, und sind in manchen
Fällen ohne die Vermittlung durch die Therapiehunde schlechtweg überhaupt nicht
erreichbar.
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Die Hundeausbilder werden eng in die Auswahl der Therapiehunde für das Projekt einbezogen
- ein Prozess, der von entscheidender Bedeutung für das Gelingen des Gesamtprojekts
ist. Jeder Hund wird einem strengen Auswahl- und Ausbildungsverfahren unterzogen,
bevor er für die Zertifizierung als Therapiehund zugelassen wird. Zunächst erfolgt
die Erstauswahl der Straßenhunde im Asyl, wobei die Reaktion des Hundes auf verschiedene
Stimuli getestet wird. Wird dieser Test bestanden, werden die Hunde einer zweiten
Auswahl unterzogen, wobei das Verhalten des Hundes in vielen verschiedenen Situationen
beobachtet wird. Das vor Ort tätige Team von VIER PFOTEN hat bereits umfangreiche
Erfahrung erworben und weiß bereits, ob ein Hund mit Kindern arbeiten könnte, nachdem
es mehrere Tage mit dem Tier zugebracht hat. Dennoch nimmt diese Testphase mindestens
6 Monate in Anspruch. Diejenigen Hunde, die alle diese strengen Tests bestehen,
können problemlos in den Therapieprozess aufgenommen und einem Hundeführer zugewiesen
werden. Die Ausbildung der Hunde und der Hundeführer hält an, und das Team verbessert
ständig seine Praxisstandards. Derzeit hat das Dogs for People-Projekt zwei Paare
aus Hund und Hundeführer – Tuca mit ihrer Hundeführerin Mihaela Rafailescu und Mulan
mit Ema Rafailescu. Alle Therapiehunde leben bei ihren Hundeführern und werden von
diesen adoptiert. Leider hat das Team zum Jahresbeginn die zwölfjährige Tibi verloren
- den ersten Therapiehund von VIER PFOTEN in Rumänien, die an einem schnell wachsenden
Tumor starb. Ihr Hundeführer war George Nedelcu. Tibi war eine unglaubliche Botschafterin
für die tiergestützte Therapiearbeit von VIER PFOTEN und wird von allen schmerzlich
vermisst.
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„Wir haben wirklich Glück, ein großartiges Team zu haben, das bereits vom Beginn
des Projekts an dabei ist“ erklärt Victor. „Der emotionale Preis ihrer Arbeit ist
sehr hoch. Jedes Kind, das in die Therapie einbezogen wird, ist ein persönlicher
Fall und eine persönliche Beziehung. Jeder Hund, der dem Team angehört, wird besonders
gut gepflegt und wird als Mitglied unserer VIER PFOTEN Familie behandelt.“
Bis Ende 2015 führte das Dogs for People-Team die Therapiesitzungen auf dem Gelände
der verschiedenen Institutionen für Kinder mit speziellen Bedürfnissen durch, wo
ihnen von der örtlichen Gesundheitsbehörde ein Raum für die Arbeit zur Verfügung
gestellt wurde. Dies erwies sich als Herausforderung, da die zugewiesenen Räume
oft zu klein waren und nur selten über Ausrüstung verfügten, um die tiergestützten
Therapiesitzungen durchzuführen und zu beobachten.
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Der 3. November 2015 stellt einen entscheidenden Meilenstein der Entwicklung dar,
nicht nur für das Projekt Dogs for People, sondern auch für die tiergestützte Therapie
insgesamt, sowohl in Rumänien als auch in Europa. An diesem Tag eröffnete nämlich
VIER PFOTEN offiziell das Forschungszentrum für tiergestützte Therapie und Mensch-Tier-Beziehung
Dogs for People in Bukarest, das vollständig durch die Tierschutzstiftung finanziert
wird und kostenlose Behandlung für Kinder mit Spezialbedürfnissen bietet. Für das
Team stellt dieses Zentrum einen wahr gewordenen Traum dar - nach vielen Jahren
haben sie nun ihre eigenen Räumlichkeiten, und können neben der tiergestützten Therapie
auch Forschungen im Bereich der Interaktionen zwischen Mensch und Tier betreiben
und Schulungsseminare durchführen.
Für die Forschungsarbeit steht ein dem aktuellen Stand der Technik entsprechendes
Verhaltensbeobachtungslabor (das fortschrittlichste seiner Art in Rumänien, sowie
vermutlich in ganz Osteuropa) zur Verfügung, das ein drei deckenmontierte HD-Kameras
umfassendes Videoüberwachungssystem einschließt, mit dem jede Therapiesitzung aus
drei verschiedenen Sichtwinkeln aufgezeichnet wird, und eine hochleistungsfähige
Sequenzanalysesoftware, die bestimmte Verhaltensweisen codiert und aufzeichnet.
Die Software verfügt über ein eingebettetes Statistikpaket, das zur Generierung
quantitativer statistischer Daten über die Interaktion mit Tieren verwendet wird,
um zu unserem Lernprozess der tiergestützten Therapie beizutragen und unsere Verfahren
fortlaufend zu verbessern. Nur wenige Wochen nach Eröffnung des Zentrums nahm es
die Zusammenarbeit mit zwei der prestigereichsten Universitäten Rumäniens auf: Mit
der Babes-Bolyai Universität in Cluj-Napoca und der Universität Bukarest. Einer
der ersten international anerkannten Experten für tiergestützte Therapie, der dem
Therapiezentrum Dogs for People einen Besuch abstattete, war Dr. Philip Tedeschi,
geschäftsführender Direktor des Instituts für Mensch-Tier-Verbindung an der Universität
Denver, der an einem von VIER PFOTEN organisierten Workshop teilnahm.
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Dank des neuen Zentrums wird VIER PFOTEN dazu in der Lage sein, noch mehr bedürftigen
Kindern zu helfen, und zwar nicht nur durch die Gewährung von direkter Hilfe vor
Ort, sondern auch durch Schulung und Forschungsarbeit. Derzeit arbeitet das Team
von Dogs for People mit 32 Kindern und plant, bis Ende 2016 die Therapie auf 50
Kinder zu erweitern.
Anca Tomescu, Leiterin von Stray Animal Care, hält es für „unglaublich, dazu in
der Lage zu sein, Kindern zu helfen, und gleichzeitig die Sichtweise streunender
Hunde der Leute zu ändern. Die lohnendsten Momente für uns alle bestehen darin,
wenn wir durch die Interaktion mit ehemaligen Straßenhunden erhebliche Verbesserungen
bei den Kindern sehen, und den Unterschied, den die Hunde im Leben der Kinder ausmachen.“
VIER PFOTEN hegt den Plan, ihre tiergestützte Therapiearbeit mit Straßenhunden auch
auf andere Länder auszudehnen, wo die Stiftung in Zukunft tätig zu werden beabsichtigt.
Julie Sanders
Internationale Direktorin von Companion Animals, VIER PFOTEN